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Havanna, die schönste Stadt des Verfalls

(2016) „Havanna“ – schon das Wort ist ein Versprechen. In Havanna ist alles anders. Unwillkürlich hört man Son-Klänge, denkt an Oldtimer, die vor Kolonialbauten mit Che-Guevara-Konterfei haltmachen. Havanna ist aber ganz anders. Havanna besteht aus vielen Versprechen und vielen Geschichten. Letztendlich ist die Stadt aber ganz anders.

Man sollte an einem Samstagabend ankommen. Die nächtliche Fahrt vom Flughafen in die Stadt führt durch dunkle Viertel. Selbst die Beleuchtung in den Hauptstraßen ist spärlich. Auch in der Stadt ist es dunkel. Dafür ertönt aus allen Häusern Musik. Ist dort Party oder hören die Menschen nur im Kämmerchen für sich? Keine Ahnung, aber die Stadt badet am Samstagabend in Musik. Am besten man badet mit. Wir sitzen auf der Terrasse eines baufälligen Hauses, sehen auf andere baufällige Häuser in den Straßen und lauschen der Musik. Ein paar tanzende Gestalten in beleuchteten Fenstern.

Am nächsten Tag eröffnen sich uns viele Facetten der Küstenstadt: Liebespaare, die in Hinterhöfen Rumba tanzen; Kinder, die zwischen Trümmern Fußball spielen; Jugendliche, ohne Smartphone-Blick, weil sie ohnehin keinen Internet-Empfang haben. Kokette Frauen in dick, die voller Überzeugung Bauch tragen.

Plumpe Schönheit sieht man nirgends. Erst der Verfall macht schließlich den Charme der prachtvollen Kolonialbauten aus. Erst die Risse in den bröckelnden Fassaden verleihen Havanna den morbiden Charakter, der die Stadt gleichzeitig so erhaben wirken lässt. Schönheit ziert die Menschen. Jeder Kubaner ist irgendwie schön, glaubt zumindest schön zu sein, zeigt Figur, knapp bekleidet. Das sieht bei vielen Frauen auch äußerst apart aus, bei manchen eben nicht. Man kann aber viel Haut fotografieren und anstaunen. Sex liegt in der Luft. Früher einmal war Havanna das größte Bordell in der Welt.

Die Stadt ist eigentlich nicht bunt. Die Fassaden der Häuser eher grau, aber selbst dieses letale Grau ist anziehend, solange die Sonne scheint. Bei Regen breitet sich die Depression aus und es hilft nur noch die Rum-Flasche. Aber die Menschen sind bunt. Selbst ganz einfache, billige Kleidung ist bunt und zeigt Körperlichkeit. Und die Autos sind bunt, und immer sauber. Gewaschen, gewienert, uralt, mindestens dreißig Jahre alt und eben in bunten Farben. Das ist nicht die Kulisse für einen kitschigen Hollywood-Film, das ist Havanna selbst. Und höchstpersönlich.

Aber da sind auch seine Schattenseiten, die man als Besucher nur ganz rudimentär erlebt: Menschen, die mit Lebensmittelkarten stundenlang anstehen für ein paar Eier, Gemüse und Kartoffeln. Menschen, die resigniert dasitzen, und auf irgendetwas warten. Dann aber trotzdem wieder lächeln. Aus Hoffnung oder aus Verzweiflung. Und dann natürlich Bettler, für die Touristen die größte Hoffnung darstellen, zumindest wenn es sich um ein Stück Seife handelt.

Havanna hat einen erlebnisreichen Zentralfriedhof, der dem Besucher Eintritt kostet, der von vielen Marmor-Sarkophagen gezeichnet ist. Im Viertelstundentakt kommen die Trauergesellschaften an und ihnen kann man zusehen, wie sie sich in Schale geworfen haben, oder wie sie von der Küche, vom Feld, von der Straße weg direkt auf den Friedhof kamen. Hier zeigt sich die Stadt mit ihren Menschen wie sie ist.

Man sagt, alle Kubaner würden liebend gerne das Land verlassen, wenn sie es könnten. Ob das stimmt wissen wir nicht. Aber man wird schon traurig, wenn man durch verfallende Gassen spaziert. Aber der Staat auch manche Fassade renoviert. Und die Menschen lassen ein Licht leuchten und Musik ertönen und ziehen sich um, um an einer Ballett-Vorstellung teilzunehmen. Die Lebensfreude ist ungebrochen. So scheint es uns jedenfalls. Havanna ist die schönste Stadt des Verfalls, die ich kenne.