Verteidigung der Demokratie
Liebe Freunde,
Weihnachtszeit, Jahreswende. Man kann viel nachdenken. Ich denke über die Demokratie nach. (schon seit einiger Zeit)
Ich empfand das Jahr 2024 voller Krisen (natürlich verstärkt durch meine persönliche Krise – ich bin also nicht ganz neutral.) Diese Krisen machen Angst; manchen mehr, manchen weniger. Ich denke, es wäre gut, sie einfach nicht zu beachten. Aber das kann ich nicht. Weil ich feststelle, dass die Krisen nicht mehr „stand alone“ sind, sondern zusammenhängen, vernetzt sind. Der Sack Reis, der in China umfällt betrifft plötzlich auch Obermichelbach.
Beispiele: Durch den Krieg in der Ukraine schrumpft die Getreideproduktion, Lebensmittelausfuhren werden gestoppt, der Hunger steigt auch in weit entfernten Ländern. Menschen sehen sich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.
Der ruchlose Angriff aus Gaza, provoziert die Israeli zu überbordender Reaktion. Der Libanon mit der Hisbollah mischt sich ein. Der Iran fühlt sich berufen, Israel anzugreifen. Die wiederum zerstören das Waffenarsenal der Iraner. Die Schutzmächte von Syrien`s Assad verlieren die Macht und Syrien befreit sich. Vielleicht erkämpfen sich nun die Kurden einen eigenen Staat, vielleicht werden die Huthis im Jemen noch vertrieben. Dann könnten eigentlich Saudis und Israeli Freunde werden.
Wahrscheinlich ist die Wirklichkeit noch viel verschachtelter als wir uns das vorstellen. Viele Akteure wirken im Hintergrund mit. Es wird immer schwieriger, die gegenwärtige Situation vollständig zu erfassen.
Wir beobachten an allen Ecken: Politik kann nicht mehr so funktionieren wie früher. Ein 75 Jahre altes Grundgesetz trifft auf eine moderne Welt. Viele ahnen bereits, dass sich etwas Grundlegendes ändern muss. Obwohl sich das Grundgesetz bewährt hat. Es ist unsere Festung gegen Demokratiezerfall. Vielleicht müssen wir es noch mehr schützen und verinnerlichen. (Wie viele 16jährige kennen das Grundgesetz?)
Ich bin ein Fan unseres Grundgesetzes. Kurz vor Ende des Jahres, in dem es 75 geworden ist, hat das Grundgesetz noch einmal seine große Stärke gezeigt. Gemäß seiner Regeln hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Freitag seine Entscheidung verkündet, den Bundestag aufzulösen und für den 23. Februar 2025 Wahlen anzusetzen. Es läuft also alles seinen rechten Gang.
Klar, Deutschland steckt in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, das Wachstum schwächelt, die Menschen sind von Selbstzweifeln geplagt, aber wir können mit einem Standortvorteil auftrumpfen. Wir verfügen über eine funktionierende Demokratie mit verlässlichen Institutionen.
In Südkorea glaubte ein Staatsoberhaupt, einen Haushaltsstreit per Kriegsrecht lösen zu können. In den USA träumt ein designierter Präsident von diktatorischer Macht. In Frankreich verliert der Staatspräsident zunehmend die Kontrolle, nachdem er kopflos Parlamentswahlen angesetzt hatte und mit immer neuen Premierministern versucht, das ihm nicht genehme Wahlergebnis zu ignorieren.
Propagandisten bieten in solchen Krisenzeiten einfache Lösungen an, die es aber in der Realität nicht gibt. Technologischer Fortschritt, das Streben nach Individualität und die Ausdifferenzierung der Gesellschaft erzeugen unglaubliche Vielfalt. Die Welt ist komplex. Sie lässt sich nicht „vereinfachen“.
Für komplizierte Probleme gibt es dennoch eine Lösung, wenn man nur lange genug darüber nachdenkt und die Verknüpfungen berücksichtigt. In der wirklichen Welt hängt alles mit allem zusammen. Komplexe Gebilde, wie eben Gesellschaften oder Ökosysteme, sind schwer zu beeinflussen. Deswegen müssen wir vollständig umdenken: Aktuelle Probleme kann man nicht mit der Denkart der Vergangenheit lösen. An diesem Umdenken sollten wir alle arbeiten.
Es fehlt der Platz (oder Räume), in denen wir solche durch Krisen hervorgerufene Sorgen und Nöte, aber auch Wege zu Lösungen besprechen können. Ich kenne keine Gruppe, keine Institution, keinen Freundeskreis, wo ich Lösungen erarbeiten könnte. Dennoch, es sollte möglich sein. Eine Überzeugung für mich, eine Gewissheit für Mitstreiter und eine Ausbreitung in die Welt. Doch geht das? Leben wir nicht alle in Blasen, die einander bestätigen? Ich gebe zu, ich kenne in meinem Freundeskreis keinen AfDler. (Glücklicherweise.)
In den vergangenen Jahren kamen immer weniger Menschen in großen Organisationen wie Kirchen und Parteien zusammen; eine Entwicklung, die durch die Coronapandemie verschärft wurde. Die Sozialen Medien können das nicht ersetzen. Wir müssen uns sehen, zuhören, erleben, riechen, gegenseitig Raum geben – nur so gelingen Debatten und Begegnung. Nur so gelingt Demokratie. In der Begegnung entsteht eine neue Wirklichkeit.
Ich suche (wir sollten suchen) einen Raum, in dem unterschiedlichste Menschen einander zuhören und miteinander arbeiten, selbstwirksam und gemeinsam kreativ. So könnte Demokratie aussehen. Gibt es solche Räume nur in Berlin oder auch in Nürnberg, Fürth oder Obermichelbach?
Viele Menschen sind mangels Einkommen, Bildung und mit einer schwierigen Lebenssituation kaum in der Lage, am politischen Leben teilzunehmen. So wird aus sozialer Ungleichheit eine demokratische Ungleichheit. Andere Menschen sind so reich, dass sie gleich ganze Zeitungen und Social Media-Plattformen kaufen, um die Politik zu beeinflussen. Jeder, der einen Tesla fährt muss dies einkalkulieren. Extreme Ungleichheit ist ein Problem und zerstört die Demokratie. Muss Ungleichheit abgebaut werden, um die Demokratie weiterzuentwickeln?
Ich sehe noch keine Lösungsansätze, aber Verteidigungslinien: Der verstärkte Schutz des Verfassungsgerichts ist nötig geworden, weil die Feinde der Demokratie auch in Deutschland erstarken und auf Schützenhilfe von Gesinnungsgenossen aus verschiedenen Himmelsrichtungen bauen können. Steinmeier hat vor Einflussnahme aus dem Ausland gewarnt und dabei explizit die Plattform X (des AfD-Unterstützers Elon Musk) erwähnt. Wenn der reichste Mann der Welt auch nur einen kleinen Teil seiner nahezu unbegrenzten Mittel in den Dienst von Feinden dieser Demokratie stellt, ist das keine Kleinigkeit, sondern muss das für die deutsche Demokratie den Verteidigungsfall bedeuten. Für den von Russlands Gewaltherrscher Wladimir Putin geführten hybriden Krieg gilt dies ohnehin. Besonders haarsträubend das Beispiel Rumänien, wo mutmaßlich russische Machenschaften eine Wahlwiederholung zur Folge haben. Erwähnen muss man auch Ungarn und die Slowakei.
Was unser demokratischer Staat machen muss, ist eigentlich klar: Er muss in extrem schwierigen Zeiten in der Lage sein, funktionierende Regierungsbündnisse über weltanschauliche Grenzen hinweg zu bilden und Mut zu längst nötigen Entscheidungen zu finden. Es muss gelingen, gegen das aggressive Russland deutlich mehr in die Verteidigung zu investieren, die Wettbewerbsnachteile für deutsche Firmen abzubauen und zugleich den sozialen Frieden im Land zu erhalten. In Zeiten der Verunsicherung muss der Staat dem Gefühl des Kontrollverlusts entgegenwirken.
In den vergangenen Jahren ist viel Vertrauen verloren gegangen. Als Merkel-Anhänger muss ich erkennen, dass diese Ära sich in der Rückschau als Phase des Eskapismus (Flucht vor der Realität in Illusionen) versteht. Gefährliche Abhängigkeiten wurden verdrängt, die Modernisierung wurde verschleppt. Die großen Koalitionen konnten nur Minimalkompromisse bei geringstem Widerstand zustandebringen. In den Ampeljahren wiederum entstand der Eindruck eines überforderten politischen Personals. Die nächste Regierung kann sich keine Fehlversuche mehr erlauben, sie muss sich bewähren.
Eine Power haben wir: Auf das Grundgesetz ist Verlass. Aber wer sich nur darauf verlässt, ist vermutlich dennoch verloren.
Ich frage mich, was kann ich tun?
Ich habe natürlich keine Antwort. Daher bin ich auch sehr unzufrieden mit dem, was ich hier niedergeschrieben habe. Ich fasse ja nur Tatbestände zusammen. Ich trage keine Lösung vor. Aber vielleicht liest es der eine oder andere und macht sich darüber Gedanken. Viele Gedanken auf der ganzen Welt führen vielleicht zu Lösungen. Ich schicke euch eine Portion Hoffnung.
Werner Schwanfelder, zum Jahresende 2024;
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